«Viel Lebensqualität bei eingeschränkter Lebenserwartung»
Das MP Expertengespräch mit PD Dr. med. Dr. sc. med. Jürg Streuli, Pädiater und Leiter des Pädiatrischen Advanced Care Team, am Ostschweizer Kinderspital.
Herr Dr. Streuli, Sie sind Pädiater mit Spezialisierung Palliative Care, 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche unterstützen Sie und Ihr Team Kinderärztinnen und -ärzte sowie Betreuungspersonen von schwer erkrankten Kindern. Was motiviert Sie? Für mich ist die Begleitung von Kindern und ihren Angehörigen in herausfordernden Gesundheitssituationen ein Privileg. Im Vordergrund der Begleitung steht dabei nicht der Blick auf ein möglicherweise kommendes Ende, sondern vielmehr auf das Hier und Jetzt mit dem Fokus auf die Lebensqualität. Durch diese Tatsache dürfen wir immer wieder kleine Wunder erleben, wenn Familien nach einer langen Spitalphase nochmals erfüllte Zeit zu Hause mit guter Symptomkontrolle verbringen können oder einer Familie mit ihrem schwer erkrankten Kind eine langersehnte Reise ins Ausland zu Verwandten ermöglicht wird. Mit spezifischen Betreuungsplänen sind wir zusammen mit den Eltern auch für Notfallsituationen bereit und können so die Familie und das lokale Team gezielt unterstützen und dadurch unnötige Besuche auf Notfallstationen oder Hospitalisationen verhindern.
Ein Palliative-Care-Angebote für junge Menschen, ist in der Schweiz noch nicht durchgehend etabliert. Woran liegt das und welche Massnahmen sind nötig, dass sich das ändert? Mit den Erfolgen der hoch spezialisierten Medizin sind Kinder mit lebensverkürzender Krankheit aus dem Blickfeld der Gesundheitsversorgung gefallen. Im Kindesalter besteht ein grosses Spektrum an seltenen Diagnosen mit oftmals hoher diagnostischer und prognostischer Unsicherheit. Das schwerkranke Kind mit seinen sehr eigenen Bedürfnissen an Schutz, Förderung und Teilhabe und seiner Einbettung in das dazugehörige Familiensystem stellt enorme Anforderungen an ein Netzwerk von Grundversorgern, Kinderspitex-Einrichtungen, Freiwilligen, Spitalstrukturen und der spezialisierten PPC. Der Personal-und Ressourcenaufwand sind dementsprechend sehr hoch und die nötigen Strukturen für ein flächendeckendes Angebot fehlen in den meisten Kantonen bis heute. Im Unterschied zum nahen Ausland ist die Palliative Care als strukturiertes Versorgungsangebot in der Schweiz nicht gesetzlich verankert. Schweizweit sterben jedes Jahr rund 500 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Aber mehr als 1000 komplex erkrankte Kinder und Jugendliche sind auf eine Betreuung mit Hilfe von Betreuungsplänen, interprofessionellen Hausbesuchen und einer 24-Stunden Erreichbarkeit einer spezialisierten Fachperson angewiesen. Genaue Zahlen fehlen, aber es sind zu wenige, dass ihnen auf nationaler Ebene Gehör und konkrete Unterstützung zugutekommt. Das jüngste Beispiel sind die Kürzungen von Hilfsmitteln für Kinder durch die IV. Diese Massnahme trifft die belasteten Familien in einem ungeahnten Masse und verschärfen die Probleme.
Der Fachkräftemangel ist in der Pädiatrie besonders ausgeprägt. Wo sehen Sie Möglichkeiten für Verbesserungen? Die Tatsache, dass es in der Pädiatrie immer ein ganzes System zu berücksichtigen gilt, macht die Arbeit unwahrscheinlich vielseitig und spannend, aber auch entsprechend aufwändiger. Die Landarztpraxis mit einer Vertrauensperson, welche die ganz Familie über Jahre gut kennt und bei komplexen Problemen auch neben den Praxisöffnungszeiten erreichbar ist stirbt aus und macht Teilzeitmodellen Platz. Auch das Tarifsystem Tarmed, wo wir mit möglichst kleinen und unflexiblen Tarif-Päckchen abrechnen, erschwert die Arbeit einer Pädiaterin/eines Pädiaters. Entsprechend braucht es neue Formen der Zusammenarbeit und Finanzierungssysteme.
Herr Dr. Streuli, Ihr persönlicher Wunsch an das Schweizer Gesundheitssystem? Ich wünsche mir, dass wieder das Kind, die Familie und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen, nicht der Strukturzwang einer Praxis oder eines Tarifsystems. Ich bin überzeugt, dass Medizin, die sich am Menschen ausrichtete und nicht an einem Tarif oder einfach an dem, was man machen kann, letztlich günstiger ist. Dazu braucht es eine Sicherstellung der Finanzierung von stationären und ambulanten Palliative-Care-Leistungen, um für komplexe Situationen in der Schweiz flächendeckend erreichbar zu sein.
Jürg C. Streuli absolvierte sein Studium und die Facharztausbildung in Zürich. Nach einem MAS in Organisationsethik und PhD in Biomedizinischer Ethik sowie einer Weiterbildung zum Palliativmediziner am Kinderpalliativzentrum / Deutsches Kinderschmerzzentrum und Universität Witten/Herdecke arbeitete er als Oberarzt im Kompetenzzentrum für Pädiatrische Palliative Care Team am Kinderspital Zürich und leitet, nach einer kurzen Gastprofessur an der Universität Toronto/SickKids Hospital, seit 2019 das Pädiatrische Advanced Care Teams am Ostschweizer Kinderspital. Er lebt mit seiner Familie in Uznach.