Wege zur integrierten Versorgung

Das MP Expertengespräch mit Annamaria Müller, der Verwaltungsratspräsidentin des ‘freiburger spitals’, Mitglied des Stiftungsrats der Klinik Wysshölzli und Inhaberin des Beratungsunternehmen Amidea – New Health Care Solutions.


Frau Müller, das ‘freiburger spital’ (HFR) versteht sich als eng vernetzter Leistungserbringer für den ganzen Kanton und will in allen Regionen den Aufbau von Gesundheitszentren vorantreiben. Was heisst das ganz konkret? Wir möchten die peripheren Standorte der freiburger Spitalgruppe (Tafers, Riaz bei Bulle, Billens bei Romont und Meyriez bei Murten) in Gesundheitszentren umwandeln. Auch am Hauptstandort in Villars-Sur-Glâne bei Freiburg soll ein solches entstehen. Schon jetzt gibt es an den Standorten Billens und Meyriez kein akutstationäres Angebot mehr, und jenes in Tafers und Riaz wurde eingeschränkt. Letzteres hatte mit den Corona-Massnahmen zu tun und stiess in der Bevölkerung nicht unbedingt auf Zustimmung. Doch am Umbau der Standorte in Rehabilitationszentren oder altersmedizinischen Einrichtungen führt kein Weg vorbei. Die Aufrechterhaltung mehrerer, voll ausgerüsteter Akutspitäler ist weder finanziell verkraftbar, noch praktisch machbar, da kaum entsprechendes Personal gefunden werden kann. Trotzdem, oder gerade deshalb möchten wir in den Regionen ein gutes Grundversorgungsnetz etablieren, um so viele gesundheitliche Probleme wie möglich vor Ort, «nahe bei den Leuten» zu behandeln. Dazu gehört auch der Ausbau ambulanter Sprechstunden und Therapien, die wir in den Gesundheitszentren anbieten möchten.


Lässt sich die Vernetzung und Koordination durch neue Organisationsformen und Vergütungsmodelle beschleunigen? Auf jeden Fall! Wir gehen davon aus, dass ein flächendeckendes, umfassendes Gesundheitsversorgungsangebot von vielen verschiedenen Partnern getragen werden muss. Das Freiburger Spital ist «nur» der Partner für stationäre Akutmedizin und Rehabilitation. Dies betrifft nur einen geringen Teil der täglichen Gesundheitsversorgung, das geht oft vergessen. Spitalaufenthalte sind nur – immer kürzer werdende – Episoden in der gesundheitlichen Biographie der Menschen. Das meiste spielt sich im ambulanten oder Langzeitbereich ab und mit diesem müssen wir uns gut vernetzen. Idealerweise mit entsprechenden Verträgen, die die Kooperation klar und verbindlich regeln. Die Finanzierung ist die Achillesferse des Systems. Solange wir die «Silofinanzierung» aufrechterhalten, ist eine flexible, settingübergreifende Versorgung schwierig. Im heutigen System ist jeder Partner daran interessiert, so viele Leistungen wie möglich zu erbringen, besonders solche mit einer hohen Marge. Dieses einzelbetrieblich gesteuerte Verhalten verhindert eine gute Medizin.


Welche Chancen für die integrierte Versorgung sehen Sie bei der fortschreitenden Digitalisierung? Die Digitalisierung erfüllt zwei Zwecke: Zum einen ermöglicht sie den lückenlosen und zeitnahen Informationsfluss unter den Partnern, dem bei den immer komplexer werdenden, ineinander verflochten Behandlungsabläufen oberste Priorität zukommt. Schon nur das Abstimmen der Medikation älterer, mehrfacherkrankter Personen zwischen Hausärztin, Spezialistin, Spital und Heimarzt, verläuft heute leider nicht immer optimal. Auch die «Brüche» zwischen den Behandlungssettings, die von den Betroffenen häufig als belastend empfunden werden, könnten mit einer digitalen Prozesssteuerung behoben werden. Und bei einer konsequenten Digitalisierung entstünden weniger administrative Leerläufe und Fehler. Der zweite Zweck der Digitalisierung ist die Entwicklung neuer Versorgungsangebote. Hierunter fallen Telemedizin, Self-Care-Programme und automatisierte diagnostische Verfahren, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie alle eröffnen neue Möglichkeiten für niederschwellige, kostengünstige Verfahren in der integrierten Versorgung.


Welche Erkenntnisse liefert die Corona Pandemie, die sich für die vernetzte Grundversorgung nutzen lassen? Die Corona Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie eng verzahnt die Lebensbereiche Gesundheit, Wirtschaft, Bildung und Sozialleben sind.Die Erschütterung in einem der Bereiche führt umgehend zu Auswirkungen in den anderen. Covid-19 ist nicht nur eine entzündliche, ansteckende Atemwegserkrankung, sondern hat weitreichende psychische und physische Auswirkungen auf die Gesamtbevölkerung, deren Ausmass uns erst jetzt langsam bewusst wird. Man kann keinen Bereich isoliert betrachten und glauben, damit die Krise bewältigen zu können. Vielmehr muss man das Gesamtsystem stets «mitdenken», um nicht Probleme zu vergrössern, die man eigentlich lösen wollte. Insgesamt denke ich jedoch, dass die Schweiz die Coronakrise recht gut bewältigt hat. Mehr Sorgen macht mir das Anrollen der Versorgungskrise für meine «Generation X», für die in Zukunft weder Mittel noch Fachkräfte zur Verfügung zu stehen zu drohen. Darum müssen wir – ähnlich wie beim Klimawandel – jetzt handeln!


Annamaria Müller, geboren 1965, Gesundheitsökonomin lic.rer.pol, hat die Entwicklung des Gesundheitswesens seit den 90’ger Jahren in verschiedenen Funktionen hautnah miterlebt und mitgeprägt. Sie arbeitete für kantonale Behörden, die Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz und die FMH. Seit 2020 setzt sie sich mit ihrer Firma Amidea GmbH für einen zukunftsgerichteten, nachhaltigen Umbau des Gesundheitswesens ein und hat verschiedene Aufsichtsratsmandate inne. Genauso leidenschaftlich bereibt sie Sport und kümmert sich um ihre vorschulpflichtigen Enkel.