«Wir werden immer lauter und sichtbarer» - Die Zukunft der Pflege

Das MP Expertengespräch mit Leandra Kissling, dipl. Notfallexpertin NDS HF; Vorstandsmitglied der Akademie Menschenmedizin und Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), Sektion Zürich, Glarus, Schaffhausen;


Frau Kissling, hat die Corona Pandemie die Wahrnehmung der Bevölkerung auf den Pflegeberuf tatsächlich verändert oder waren die Beifallskundgebungen eher ein kurzfristiges Manifest schlechten Gewissens? 

Ich denke, dass die Wertschätzung der Bevölkerung für den Pflegeberuf schon immer relativ hoch war und dank Corona nochmals gestiegen ist. Die Problematik sehe ich bei den Politikern, bei denen wir mit unseren Forderungen leider oft auf taube Ohren stossen. Sie sehen nur die Kosten, jedoch kaum die Relevanz unseres Berufs. Auch nicht, wie mittels professioneller Pflege im Gesundheitswesen Kosten gesenkt werden könnten. Das verunsichert die Bevölkerung. Und da ihnen auf politischer Ebene die Hände gebunden sind, bleibt ihnen aktuell nichts anderes übrig, als zu klatschen. Jeder Applaus wird irgendwann mal enden. Aber meiner Meinung nach werden die Wertschätzung und das Verständnis für die Pflege in der Bevölkerung auch nach der Corona Pandemie erhalten bleiben.


In der Kolumne, «Ich wünschte, ich hätte…» beschreiben Sie Ihre Gedanken zu einem möglichen Berufswechsel. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen verlassen den Pflegeberuf tatsächlich vorzeitig. Mit welchen Massnahmen können Arbeitgeber Gegensteuer geben?

Aufgrund der beschränkten Personalressourcen und der steigenden Komplexität ist der Pflegeberuf schon hart genug. Deswegen ist es wichtig, dass die durch den Arbeitgeber geschaffenen Rahmenbedingungen ihn nicht noch härter machen. Beispielsweise sieben Tage am Stück arbeiten, direkt vom Spätdienst auf den Frühdienst wechseln, nach den Nachtdiensten nur einen Tag frei haben, all dies kostet unnötig viel Energie. Ich wünsche mir, dass neue, dynamische  Arbeitszeitmodelle entstehen, welche die unterschiedlichen Bedürfnisse der Pflegenden besser abdecken. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die direkte Wertschätzung der Vorgesetzten. Auch da sehe ich Verbesserungspotential!


In der jüngsten OBSAN Studie «Gesundheitspersonal in der Schweiz» (1) wird aufgezeigt, dass wir unbedingt mehr Pflegefachkräfte im Inland ausbilden müssen. Sie gehören zu den Millennials, welche Anreize braucht es, dass sich mehr Junge für eine Pflegeausbildung begeistern? 

„Menschen helfen und Gutes tun zu wollen“ ist schon lange nicht mehr der primäre Anreiz für einen Pflegeberuf. Ein guter Lohn ist nicht das Hauptargument, aber er ist wichtig. Für meine jetzige Position habe ich fünf Jahre Pflege an einer höheren Fachschule studiert. Hätte ich im selben Zeitraum ein anderes Studium an einer Universität absolviert, so würde ich heute klar mehr verdienen. Junge Leute überlegen sich sehr gut, wofür sie ihre Zeit investieren wollen und schätzen den stetigen Wandel. Beispielsweise neues Wissen erwerben zu dürfen und dabei vom Arbeitgeber unterstützt zu werden, ist im heutigen Gesundheitswesen ein Privileg. Zudem schätzen die Jungen Flexibilität. Sie möchten Teilzeit arbeiten und dynamische Arbeitsmodelle ausprobieren können, um ihren Beruf besser mit ihrer Familie oder ihrer Freizeit zu vereinbaren.


Die Pflege als eigenständigen Beruf zu etablieren und die Position der Pflegefachpersonen zu stärken, für diese Ziele engagieren Sie sich persönlich im Berufsverband SBK (2). Wo ist der Hebel anzusetzen, um diesen Anliegen zum Erfolg zu verhelfen? 

Ein Grossteil der Bevölkerung weiss nach wie vor nicht, was wir in unserem Beruf tagtäglich leisten. Es liegt an uns, sie entsprechend zu informieren! Wir müssen aufzeigen, welche Kompetenzen wir in den letzten Jahren erworben haben, um ein professionelle Pflege zu gewährleisten. Je mehr Leute wissen, wie unentbehrlich wir sind, desto mehr Forderungen können wir auf politischer Ebene einbringen und auch durchsetzen. Dafür braucht es noch ein weiteres Element: Mehr Pflegefachpersonen in der Politik. Denn wer soll sich für uns und unsere Anliegen einsetzen, wenn nicht wir selbst? Wir brauchen mehr Pensionierte, Freiberufliche, Teilzeitarbeitende oder ehemalige Pflegefachpersonen, die uns in Bern den Rücken stärken. Für den Aufbau einer mächtigen Lobby, müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Auf dem Weg dahin, werden wir immer lauter und sichtbarer!


1)   OBSAN BERICHT 71 Gesundheitspersonal in der Schweiz, Bestandesaufnahme und Prognosen bis 2030

2)   Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK – ASI, www.sbk.ch/verband/der-sbk


Leandra Kissling, 27-jährig, motivierte Notfallexpertin, ist seit vier Jahren im Stadtspital Triemli auf der interdisziplinären Notfallstation tätig. Die spannenden Eindrücke und ihre Gedanken dazu, verarbeitet sie in ihren regelmässigen Kolumnen, die in der Zeitschrift „Krankenpflege“ publiziert werden. Sie setzt sich im Vorstand des SBK ZH/GL/SH für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege ein. Zusätzlich engagiert sie sich im Vorstand der Akademie Menschenmedizin für ein menschengerechteres Gesundheitswesen. Zum Abschalten geht sie ins Group Fitness, liest in Ruhe ein Buch oder geniesst einen entspannten Wellnesstag.